2008 Konzert „Stahl und Musik“

Komposition Karsten Gundermann,
Neue Elbland Philharmonie Riesa, Uraufführung 05.07.08

 

Stahl und Musik
Sinfonie für Maultrommel und Orchester

Orchesterstücke für Maultrommel sind in der Musikgeschichte selten, umso erfreulicher ist es, dass der aus Dresden stammende Komponist Karsten Gundermann eine neue Sinfonie für Maultrommel und Orchester geschaffen hat.

Ob Zufall oder Bestimmung, Karsten Gundermann hörte mich auf einer Geburtstagsfeier Maultrommel spielen und war davon so angetan, dass er ein Stück für dieses archaische Instrument komponierte: Die Elblandphilharmonie in Riesa suchte für ein Konzert unter dem Motto „Stahl und Musik“ ein passendes Stück. Nach anfänglicher Skepsis gegenüber der Maultrommel als Soloinstrument wurde die Direktion durch die Ansicht des Videofilms „Mundton“, eines künstlerisch gestalteten Berichts vom 5. Internationalen Maultrommelfestivals in Amsterdam, überzeugt.

Karsten Gundermann besuchte mich in Berlin und ich spielte ihm auf einigen meiner Instrumente Melodien mit den unterschiedlichsten Techniken vor. Er beobachtete richtig, dass zwischen dem Maultrommelspiel und dem Atem eine starke Verbindung besteht. Auch spielte ich für ihn auf der Nasenpfeife, auf der schamanischen Trommel aus Tuva und führte ihm mein „Schamanenkostüm“ vor. Das besteht aus einem frackähnlichem Jackett, an dem Glöckchen in den unterschiedlichsten Tonlagen und schwarz-rot-goldene Stofffetzen, die an buddhistische Gebetsbänder erinnern, mit Sicherheitsnadeln angeheftet sind.

In den folgenden Wochen studierte Karsten Gundermann Texte über die Maultrommel und hörte CDs. Zum Konzert von Albrechtsberger schrieb er: „Ist es nicht wunderbar, dass vor 300 Jahren schon einmal ein Konzert für Maultrommel und Orchester komponiert wurde? War Musik nicht schon immer ein wenig Cross-Over? Ich war total verzückt, stolz auf meinen historischen Komponistenkollegen und voller Mut für mein eigenes Vorhaben. Allerdings fiel mir auf, dass die Maultrommel in Albrechtsbergers Konzert schon stark an die Tradition der Klassik angepasst worden war - die Maultrommel wurde wie ein klassisches Melodieinstrument mit merkwürdig surrendem Klang behandelt, der Zauber der Obertöne wurde vom Komponisten nicht mitempfunden und die archaischen Kräfte der Maultrommel waren auf dem Wege dieser Verfeinerungen verlorengegangen.“

Karsten Gundermann beschloss in seiner Komposition das Gegenteil zu versuchen: „Ich wollte die Maultrommel so stark wie möglich als schamanisches Instrument behandeln, die der Maultrommel eigenen Kräfte entfalten und prüfen, inwieweit sich das Sinfonieorchester auf diesen Vorgang einlassen kann.“ So begann er mit dem Studium des Schamanismus: „Die gesamtheitliche Sichtweise der Schamanen wies mich auf eine Zeit, wo Philosophie, Theater, Wissenschaft, Heilkunst und Musik noch eine gemeinsame Wurzel hatten, vielleicht ist Schamanismus sogar ein wichtiger Bestandteil der Wurzel unserer heutigen Kultur: Kranke heilen, Wild anlocken, Wetter machen, die Ahnen rufen, Wahrsagen – heute nennt man es Depressionen besiegen, Aufträge beschaffen, Klimaschutz, Geschichtsbewusstsein und Trends abschätzen. Noch mehr als diese “nützlichen” Tätigkeiten begeisterte mich die “künstlerische” Seite des Schamanentums: Die Freude am Philosophieren, am Verkleiden, am Singen und Tanzen, am Theaterspielen – die Extrovertiertheit der Schamanen schien mir ein Zeichen der Nähe von Wissenschaft und Kunst zu sein, so sehr wir heute auch den Graben zwischen ihnen betonen mögen.“ Und der Komponist entdeckt den Zusammenhang zwischen Musik und Schmiedekunst. Jetzt hatte er alle Elemente zusammen, aus der seine Komposition bestehen sollte: die vibrierende Stahlzunge, schamanische Rituale und das Lebenselixier Atem.

Der Konzertort Riesa, an der Elbe gelegen, war zu DDR-Zeiten ein bedeutender Stahlproduktions- und Verarbeitungsstandort. Von 52.000 Einwohnern arbeiteten 13.000 im Stahl- und Walzwerk. Nach der „Wende“ war der Stahl aus Riesa nicht mehr konkurrenzfähig und in kurzer Zeit verloren 10.000 Menschen ihre Arbeit. Aber noch immer ist das Stahlwerk das Herz von Riesa und so kam es zur Wahl des Themas „Stahl und Musik“.

Karsten Gundermann beschloss, Stahl als Klangkörper in das aus vier ineinander fließenden Sätzen bestehende Stück, einzubinden, gewissermaßen als Identifikationssymbol für Riesa. Das Konzert begann mit summenden, surrenden Hintergrundsflächen, zu denen eine tuvinische Schamanentrommel geschlagen wurde. Es öffnete sich ein Klangraum, der die Phantasie der Zuschauer aktivierte. Die einsetzende Maultrommel regte mit geschweiften Obertonkonturen zum Träumen an und ihre Töne setzten sich fort in einem tranceartigen Rhythmus, zu dem Teilsilben des Stadtnamens Riesa: “Yiou-sa Hou-sa Rie-sa-Yaaah” gebrabbelt und als Obertöne gesungen wurden. Um die elementar-archaische Wirkung zu verstärken, schlugen die Schlagzeuger mit Hämmern auf den Erdboden. Durch kräftiges Ein- und Ausatmen wurde der Trance-Rhythmus gesteigert, er erinnerte an den das Feuer anblasenden Schmied. Optisch angereichert durch einen der indischen Kundalinimeditation ähnlichen Tanz, endete dieser Teil mit einem „Geburtsschrei“. Während des Tanzes wurde ein 12 Meter langer Stahlträger – langsam, majestätisch, wie ein schamanisches Krafttier – durch Deckenkräne vor die Bühne gefahren.

Das Orchester tobte, drei Schlagzeuger hämmerten auf den Stahlträger ein und die Maultrommel improvisierte wilde Rhythmen: das Stahlwerk, die Kraft des Eisens, die Arbeit der Schmiede, das Feuer und der Atem – alles wurde durch die Musik materialisiert. Mit Schreien und stapfenden Tanzschritten endete dieser Teil in plötzlicher Stille – das Ende der Stahlära war gekommen. Zarte, leicht gequetschte, langanhaltend gesungene Obertöne schwebten durch den Raum und lösten die Stille auf. Am Ende wurde das Publikum zum Mitsingen aufgefordert: Die Frauen sangen ein hohes „Riiiiiiiie“, die Männer ein tiefes „Saaaaaaa!. Langsam mischte sich der Gesang - im Zusammenspielt mit dem Orchester, unterstützt von der Maultrommel und kräftigen Ober- und Untertönen - erschallte der Chor: „Riiiiiieeessaaaa, Riiiesa, Riesaaaaa“. Die Riesen waren in die nach ihnen benannte Stadt zurückgekehrt.

Im Anschluss feierte das begeisterte Publikum mit Orchester, Dirigenten, Komponisten und Solisten im Festzelt diesen wunderbaren Abend bis in den Morgen. In dieser Nacht wäre es möglich gewesen, viele Maultrommeln zu verkaufen, denn mehrere Menschen wollten dieses so noch nie gehörte Instrument ausprobieren und besitzen – so stark hatte sich seine magische Kraft auf die Zuhörer übertragen.

Für mich als Solist war dieses Konzert ein unbeschreibliches Erlebnis: mit der vielfältige Kraft des Orchesters im Rücken, dem lauschenden, neugierig staunenden Publikum vor mir, durfte ich mit Trommel, Stimme und Maultrommel die verschiedenen Stimmungen zusammenführen.

Uraufführung 05.07.2008, Neue Elbland Philharmonie, Dirigent Christian Voss, Komponist Karsten Gundermann, Maultrommelsolist Gerd Conradt. Freyler-Halle Riesa. Sonderkonzert „Stahl und Musik“.

Gerd Conradt