Christina Thürmer-Rohr im offenen Gespräch. Pfarrerstochter, Kriegskind, Halbwaise – der Vater ein bekennender Christ und Nazi. Nach dem Tod des Vaters und der Flucht aus der Heimat (Westpommern) bieten Orgelspiel und Gesang Trost in der neuen Heimat Bethel – dem markantesten Ort protestantischer Nächstenliebe.
Als Studentin in Freiburg erscheint ihr die Stadt „wie die ganze Welt“ und das Studium „wie das Paradies“. „Freiheit“ wurde zum wichtigsten Wort. Sie war fasziniert „von existentialistischen Ideen, von der Vorstellung, dass man sich von Wurzeln und Herkünften selbst entbinden kann, dass man sich selbst in die Regie nehmen, sich bewegen, neu anfangen kann und dafür die volle Verantwortung übernehmen muss.“
Sie promoviert als Sozialwissenschaftlerin und geht nach Berlin.
Sie heiratet, fügt den Namen ihres Mannes ihrem hinzu und wird Mutter eines Sohnes.
Mitte der siebziger Jahre schließt sie sich der Frauenbewegung an, trennt sich von ihrem Mann – wird alleinerziehende Mutter und gründet an der Technischen Universität Berlin den ersten Studienschwerpunkt „Frauenforschung“. „Es war eine euphorisierende Erfahrung von Selbstermächtigung und Mut, die Erfahrung, dass man selbst Initiative ergreifen und mit anderen handeln kann.“
Fortan lebt sie mit und für Frauen. Schwarz gekleidet lehrt sie in übervollen Hörsälen und steht als Pianistin und Sängerin mit der Rockformation „Ausserhalb“ auf der Bühne. Herrschaftskritik, Patriarchatskritik, Gewaltkritik, Opferkritik, Mittäterschaft - sind von ihr durchdachte Themen.
Sie schreibt und spricht über eine Welt, deren destruktive Dynamik ihre Ursachen im Überflüssigmachen von Frauen hat und über eine Geschichte der Gewalt, die eine kulturelle Revolution braucht, in der Frau sich vom Status des Opfers in den des Subjekts und das einer Handelnden versetzt.
Der Film ertastet Momente aus dem Leben von Christina Thürmer-Rohr, deren Besonderheit darin besteht, dass sie ihr Denken lebt – Erkennen und Handeln nicht trennt. Nach Wesentlichem suchend, im Vielen und Verschiedenen, im Interesse an einer gemeinsamen Welt. Als Akt des Erinnerns inszeniert der Film Vergangenheit in der Gegenwart. Zusammen mit ihr erkundet der Film die Bodenlosigkeit, die freies Denken auslösen kann.
Gerd Conradt
Foto: sobotka
anfangen - Christina Thürmer-Rohr ein Film von Gerd Conradt
Dienstag, 14. Oktober 2014, 18.00 - 21.00 Uhr
Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstraße 8, 10117 Berlin
Livestream der Diskussion ab 19 Uhr auf
www.Gunda-Werner-Institut.de
Die feministische Theoretikerin, emeritierte Professorin der Technischen Hochschule Berlin, Sozialwissenschaftlerin und Musikerin Christina Thürmer-Rohr hat eine ganze frauenbewegte Generation geprägt. Ihre Arbeit kreist um Herrschafts- und Patriarchatskritik, um Gewaltkritik, Opferkritik, um Mittäterschaft - und Freundschaft. Bis heute inspiriert sie durch ihr vorausschauendes Denken. Ein Denken, das immer auch heißt, mit sich selbst reden zu können und mit sich selbst leben zu müssen.
Der Film "anfangen", ertastet Momente aus dem Leben von Christina Thürmer-Rohr mit ihrer Besonderheit, Erkennen und Handeln nicht zu trennen. Er erkundet die Bodenlosigkeit, die freies Denken auslösen kann.
"anfangen", ein Film von Gerd Conradt
Kamera: Ute Freund / Schnitt: Astrid Vogelpohl, Ton: Ivonne Gärber Ulla Kösterke /
Produktion: kinoglas-films, 50 Minuten
Informationen zum Filmemacher Gerd Conradt und zu Christina Thürmer-Rohr finden Sie hier
http://calendar.boell.de/de/event/anfangen-christina-thuermer-rohr-im-gespraech-0
Im Anschluss an den Film, diskutieren mit Christina Thürmer-Rohr:
Dr. Sabine Hark, Professorin für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der Technischen Universität Berlin
Dr. Nivedita Prasad, Sozialpädagogik-Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin
Moderation: Gitti Hentschel, Leitung Gunda-Werner-Institut
Fachkontakt: Gitti Hentschel, Gunda-Werner-Institut in der Heinrich-Böll-Stiftung
Email: hentschel@boell.de, T: 030 - 285 34-122
Besuchen Sie uns auch unter www.facebook.com/Gunda-Werner-Institut
taz-online, 13.10.2014
Am Anfang steht das Nichtwissen FILM-PORTRÄT "anfangen" zeigt die feministische Theorie-Ikone Christina Thürmer-Rohr als Sucherin nach neuen Perspektiven
VON CAROLIN WEIDNER
Es ist ein schöner Gedanke, der hinter Gerd Conradts Filmtitel "anfangen" steckt, einem knapp einstündigen Dokumentarfilm über Prof. Dr. Christina Thürmer-Rohr: Sie versteht sich als eine, die wiederholt und gern zur Anfängerin wird. "Es ist ja immer ein Abenteuer, wenn man sich ein neues Thema vornimmt", sagt Prof. Dr. Christina Thürmer-Rohr zu Beginn des Films. Zuvor sah man sie an einer Heimorgel spielen. Thürmer-Rohr ist bekannt als Denkerin, war aber immer auch Musikerin. Und vor allem eine Frau, die gern neue Themen in Angriff nimmt.
Thürmer-Rohr ist Frauenforscherin, von 1972 bis 2005 besetzte sie den Lehrstuhl Feministische Forschung an der TU Berlin. Sie gehört auch zum Kreis der taz-GründerInnen und setzte vielfach Akzente: Ute Scheub schreibt in einem Artikel von 2001, der anlässlich Thürmer-Rohrs 65. Geburtstag erschien: "Ihre 1987 veröffentlichte autobiografisch gefärbte Essaysammlung ,Vagabundinnen' gilt vielen als ,Bibel'." Thürmer-Rohr war außerdem Mitglied der Rockformation "Außerhalb". Es steht also außer Frage, dass diese Frau nicht nur etwas zu erzählen, sondern auch zu sagen hat.
In "anfangen" geschieht das vornehmlich vor einer Bücherwand in Thürmer-Rohrs hauseigener Bibliothek. Ledersessel, Zigarette. "Ein Nichtwissen ist der Anfang, und nicht schon ein fertiger Gedanke oder ein Text, den man eigentlich nur noch aus dem Kopf abschreiben muss." Sie findet, man muss sich die "Gastfreundschaft im eigenen Kopf bewahren", und fühlt sich Hannah Arendts "dialogischem Prinzip" verwandt: "Man kann nicht immer weiter auf der gleichen Schiene denken."
Und unter einer Anfängerin versteht sie, sich einigen Grundfragen immer wieder von anderen, neuen Seiten aus zu nähern. Durch Tätigkeiten, die man eben nicht von vornherein beherrscht. Ein Weg führt für sie dabei über die Musik, die Polyphonie, das Orgelspiel.
"Diese ganze Zeit wäre ohne die Musik für mich gar nicht überstehbar gewesen." Im Film musiziert Thürmer-Rohr allein oder mit Partnerin Laura Gallati, einer Schweizer Pianistin, mit der sie seit 1993 zusammenlebt. "Die eine Hälfte meines Lebens war ich mit Männern zusammen, die andere Hälfte mit Frauen. Finde ich auch ziemlich folgerichtig." Einen Mann gibt es aber trotzdem, Thürmer-Rohrs Sohn Til. Auch er ist Bestandteil von "anfangen". In Schwarz-weiß-Amateuraufnahmen aus den 70er Jahren (die ebenfalls von Gerd Conradt stammen) berichtet das Kind Til aus seinem Leben. Til weiß zu berichten, dass seine Mutter häufig an der Schreibmaschine sitzt und Conradt fragt, ob die Mutti denn schnell schreiben könnte. Til antwortet "Nee", und Christina Thürmer-Rohr bestätigt in der Retrospektive: "Das hat er schon richtig gesehen."
"anfangen" gelingt es gut, sich auf diesen verschiedenen Ebenen zu bewegen, ohne dass die Sprünge ungelenk wären oder das Gefühl sich breitmachte, man sei Zeuge einer lang anhaltenden Meditation.
Auch der Filmemacher Gerd Conradt bewegt sich in seiner Arbeit mit "anfangen" auf mehreren Bahnen: Videoprogramme und Installationen, Fernsehen und Lehrtätigkeit. Sein Film "Video Vertov" von 2012, dessen narrative Aufgabenstellung es war, seinem Enkel anhand von Archivaufnahmen von politischen, amourösen und schließlich auch spirituellen Marksteinen zu berichten, ist ein unfassbares Dokument. Und man kann Gerd Conradt doch sehr dankbar sein, dass er sich nun, 73-jährig, an diese persönliche Aufarbeitung macht. "anfangen" ist Teil dieses Zyklus.
Thürmer-Rohr hat nicht nur etwas zu erzählen, sondern auch zu sagen
Der Freitag, 23.10.2014
Mach’s wie Bach: über eine große Berliner Feministin
Gelobt sei der Zweifel, hebt Bertolt Brecht in seinem berühmten gleichnamigen Gedicht an, und der Zweifel, sagt Christina Thürmer-Rohr, sei das Grundelement ihres Lebens gewesen. Ein schon ziemlich langes, noch vor dem Zweiten Weltkrieg begonnenes Leben voller Wendungen, über das die feministische Theoretikerin nun in einem Film Auskunft gibt mit dem Titel anfangen.
Ein Film mit sparsamen Mitteln: eine mitteilsame Thürmer-Rohr vor der unvermeidlichen hohen Bücherwand im Ledersessel; eine sich körperlich verausgabende, in sich ruhende Thürmer-Rohr an der Orgel oder mit der Lebensgefährtin, der Pianistin Laura Gallati, am Flügel; eine überraschte Thürmer-Rohr, die sich alte private Filmstreifen anschaut, und eine elegische Thürmer-Rohr, die durch den Tiergarten streift.
Im Gespräch mit dem Filmemacher Gerd Conradt, einem Bekannten aus alten Tagen, kehrt die Feministin noch einmal zurück an die Anfänge: in das Jahr 1936 im damals noch deutschen Arnswalde, der Vater evangelischer Pfarrer und überzeugter Nazi. Das war der Ausgangspunkt für ihre Generation, alles war kontaminiert. „Es konnte keinen naiven Zugriff geben auf irgendeine Tradition“, sagt sie in der Diskussion, die auf die Vorführung des Films in der Berliner Heinrich-Böll-Stiftung folgt. Die gewaltsame Vergangenheit und die Gewalt der Gegenwart, insbesondere gegen Frauen, waren der Schlüssel fürs feministische Engagement – aber auch für das unablässige Nachdenken über die schwankende Position von Frauen, die eben nicht nur Opfer, sondern auch Mittäterinnen und sogar Täterinnen waren und das kollektivselige feministische Wir in Frage stellten. Die Mittäterschaftsthese hat Thürmer-Rohr nicht überall Freundinnen eingebracht, aber eine gläubige Gemeinde beschert, „Groupies“, wie es später auf dem Podium heißt, die sich an die „Vagabundin“ hängten (Vagabundinnen war der Titel eines Buchs von Thürmer-Rohr).
Im Film wieder ein Schnitt, Wechsel von der Denkerin zur Musikerin, Bach und Experimentelles. Die Musik, sagt Thürmer-Rohr, verarbeite, was die Philosophie Hannah Arendts aufgibt, die ihr Bezugspunkt ist; sie organisiert die Vielheit der Stimmen, den Dialog und die Kontroverse, das Mit- und Gegeneinander, das für den feministischen Diskurs und weibliche Lebensweisen von jeher kennzeichnend war. Gerd Conradt, bekannt geworden mit Filmen über Holger Meins, ist kein Voyeur. Er lässt Thürmer-Rohr sprechen und ist aus ungewöhnlichen Perspektiven ganz nah, wenn sie spielt. Das wirkt, gemessen an filmbiografischen Sehgewohnheiten, puristisch und manchmal leicht sakral. Wo Natur als Mitspieler aufgerufen wird, schrammt der Film gelegentlich den Kitsch.
Der „feministischen Avantgardistin“, wie Gitti Hentschel, Leiterin des Gunda- Werner-Instituts in der Böll-Stiftung, den Gast bei der völlig überfüllten Veranstaltung vorstellte, wird der Film insofern gerecht, als dass das Tastende von Thürmer-Rohrs Denken und der durchaus selbstgewisse Habitus ein kongruentes Bild ergeben, eine peinlich berührte und doch geschmeichelte Ikone. Dass Thürmer-Rohr, die sich schon längere Zeit aus der feministischen Öffentlichkeit zurückgezogen hat, bis heute Säle füllt, zeugt von ihrem Nimbus, Zündfunke und Störfeuer in einem zu sein. Sie hat die feministischen Denkbewegungen forciert mit ihren produktiven Fragen und Zweifeln. Ein Zweifel, der ganz im Sinne Brechts auch für ihre Denkbestände gilt.
Ulrike Baureithel