In FACE_IT! berichtet der Videopionier Gerd Conradt von der Codierung des Gesichts, die als moderner Fingerabdruck wie ein geheimnisvolles Siegel Zugang zur Persönlichkeit eines Menschen verschafft. Mit Hilfe des Facial Action Coding System (FACS) soll es möglich werden, die Geheimnisse des Gesichts – des Spiegels der Seele - zu entschlüsseln. Damit besteht die Gefahr, dass der nicht endende mimische Austausch von Gesicht zu Gesicht zu ausdrucks- und geschichtslosen FACES wird, zu Wesen immerwährender alters- und geschlechtsloser Gegenwärtigkeit. Der Film fragt: Wem gehört das zum Zahlencode gewordene Gesicht? Gerd Conradt unterhält sich dazu mit Datenschützern, Künstlern und der Staatsministerin für Digitalisierung.
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Bahnhof Berlin-Südkreuz
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Tim Berners-Lee, Erfinder des WWW, kämpft für den Erhalt eines offenen und freien Web für alle. In einem Gesellschaftsvertrag für den digitalen Raum fordert er: Kein Missbrauch durch Überwachung Zugang der User zu ihren Daten #ForTheWeb
Programmkino.de, Michael Meyns FACE_it! Wem gehört unser Gesicht? Diese Frage, die bis vor kurzem noch eindeutig zu beantworten war, ist roter Faden von Gerd Conradts Dokumentation „Face_It!“, die einen vorsichtigen Blick in eine Zukunft wagt, in der Gesichtserkennung Alltag geworden sein wird. Verschiedene Theoretiker und Politiker kommen zu Wort, die das Thema vorsichtig und differenziert umkreisen. Ein Pilotprojekt zur Gesichtserkennung am Berliner Bahnhof Südkreuz war der Ausgangspunkt für Gerd Conradts Beschäftigung mit dem Thema. Eine Forschungsgruppe hat hier Gerätschaften installiert mit denen die freiwilligen Teilnehmer des Experiments, beim hinuntergehen einer langen Treppe gefilmt und mittels modernster Technik identifiziert werden. Bewegungsprofile lassen sich so erstellen, die mit zunehmender Verbreitung der Technik, in Kombination mit der - oft freiwilligen - Bereitstellung von allen möglichen Daten im Internet, immer bessere Vorhersagen über Wege und Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen machen lassen. Vom sprichwörtlichen Big Brother ist bei solchen Szenarien schnell die Rede, vom Überwachungsstart und dem Verlust von Freiheit. Doch ist das wirklich so? Und geben wir online nicht ohnehin ein Maß an Information über uns preis, das vor Jahren unvorstellbar erschien? Es ist die größte Stärke von Gerd Conradts Film, dass er sein Thema nicht alarmistisch und hysterisch angeht, sondern umsichtig und differenziert. Weder rückwärtsgewandte Kassandrarufer, die die Uhr am liebsten ganz weit zurückdrehen würden, noch begeisterte Vorreiter, die gar nicht schnell genug auch noch den letzten Aspekt ihrer Privatheit aufgeben wollen kommen zu Wort. Stattdessen Menschen, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Thema beschäftigen, Vorteile der neuen Entwicklung sehen, ohne mögliche Probleme auszublenden und umgekehrt. Zu ihnen gehört schon von Amts wegen Dorothe Bär, die Staatsministerin für Digitalisierung - ja, so etwas gibt es tatsächlich - die grundsätzlich eine technikaffine Position vertritt. Wer mag auch die Vorteile bestreiten, wenn man am Flughafen dank elektronisch lesbarer Reisepässe in Kombination mit zunehmend schnellerer Gesichtserkennung, nicht mehr endlos lange in langsamen Schlangen stehen muss. Doch zahlen der Einzelne und die Gesellschaft als Ganzes für solche (kleinen) Vorzüge, nicht einen zu hohen Preis? Dass das zunehmende Sammeln von Daten, die Möglichkeit der Vernetzung, auch das Potential zum Missbrauch hat, mag niemand bestreiten. Dass es einem Staat grundsätzlich möglich wäre, die gesammelten Daten auch zur zunehmenden Kontrolle der Bürger zu verwenden, liegt auf der Hand. Die Frage ist also ob technische Entwicklungen wegen der theoretischen Möglichkeit des Missbrauchs schon im Vorfeld eingeschränkt werden sollten. Der österreichische Künstler und Kurator Peter Weibel ist da vorsichtig. Als Leiter des ZKM, des Zentrums für Kunst und Medien in Karlsruhe, beschäftigt er sich von Berufswegen mit den Möglichkeiten, dem Potenzial und den Gefahren der Technologie und lässt Medienwissenschaftler und Künstler forschen und spekulieren. Sie alle und mehr lässt Conradt in kaum 80 Minuten zu Wort kommen, unterbrochen von eigenen Überlegungen des Regisseurs, der seit den 60er Jahren Filme macht, die bewusst und im besten Sinne politisch sind. Früher bedeutete das Filme über die Linke, ihre Ziele und auch Abwege in die Radikalität zu machen. Bei „Face_It!“ bedeutet es, sich mit einer schleichenden Entwicklung zu beschäftigen, die alle Menschen, unabhängig von Herkunft, Ethnie oder politischer Ausrichtung betrifft, auch wenn viele sie kaum wahrnehmen. Mit seinem Film macht Conradt sichtbar, was immer noch zu unsichtbar ist.
FilmDienst, Bernd Buder FACE_It! - Das Gesicht im Zeitalter des Digitalismus Dokumentarisches Essay für Gefahren, Grenzen und Nutzen digitaler Gesichtserkennung. Das deutsche Innenministerium hat im Jahr 2018 am Bahnhof Berlin- Südkreuz verschiedene Computerprogramme der Gesichtserkennung getestet. In der Öffentlichkeit war das sechsmonatige Projekt umstritten. Der Wunsch nach mehr Sicherheit steht der Angst vor der Verletzung der Privatsphäre und vor dem Missbrauch gesammelter Daten entgegen. Der Filmemacher und Videokünstler Gerd Conradt verlängert die politische Diskussion um philosophische Aspekte: Was macht ein Gesicht aus, und wie verändert sich dessen Lesbarkeit im „Zeitalter des Digitalismus“? Das Wort „Digitalismus“ ist nicht zufällig gewählt. Conradt hat sich in seinem Gesamtwerk, von der Langzeitbeobachtung „Der Videopionier“ über den Kampf einer Mieterinitiative in den 1970er-Jahren und seiner Reflexionen über die Biografie seines Kommilitonen und „Rote Armee Fraktion“-Aktivisten „Starbuck Holger Meins“ bis zu der filmischen Autobiografie „Video Vertov“ immer wieder mit den Wirkungen von Ideologien auseinandergesetzt, deren Heilsversprechen meist mehr Druck auf das Individuum ausübten, als dass sie zur Weltverbesserung getaugt hätten. Das gilt auch im Falle des „Digitalismus“, der wie beim Pilotprojekt am Bahnhof Südkreuz die Idee einer umfänglichen Sicherheit vor Verbrechen und Terroranschlägen suggeriert. „Face_It!“ diskutiert das Phänomen kritisch, aber auch mit einer großen Portion Neugier – Conradt ist kein Modernisierungsgegner; er will vielmehr verstehen, wohin diese Modernisierung führt. Der menschliche Faktor Dazu befragt er verschiedene Akteure, von der Staatsministerin für Digitalisierung über Datenschützer und Videokünstler bis zu einem „Human Decoder“, der sich mit dem menschlichen Faktor in verschiedenen technisch dominierten Branchen auseinandersetzt. Um diesen menschlichen Faktor kreisen die meisten Gesprächen. Zwar lassen sich Gesichter biometrisch auslesen, doch was sagt die auf diesen Referenzdaten basierende Gesichtserkennung im öffentlichen Raum über die Befindlichkeiten, über die Emotionen, über die Persönlichkeit der beobachteten Personen aus? Sigrid Weigel, die das Konzept zu der Ausstellung „Das Gesicht – eine Spurensuche“ im Dresdener Hygienemuseum entwickelt hat, spricht von der „Illusion, alles den Algorithmen zu überlassen und diese alles erledigen zu lassen.“ Dass Sicherheit weniger mit Überwachung als mit Vertrauen zu gewinnen ist, bringt der Künstler Padeluun mit der aphoristischen Sinnfrage zum Ausdruck, ob denn der Schutz der Demokratie durch die Überwachungstechnologie nicht von der vermeintlichen „Freiheit ohne Sicherheit“ zur „Sicherheit ohne Freiheit“ führe. Das sind grundsätzliche Gedanken, die in keinem Essay über die Herausforderungen des digitalen Zeitalters fehlen sollten. Interessant wird es, wenn der Film abschweift, den interdisziplinären Dialog mit der Digitalgeschichte und mit Technikern sucht. So konfrontiert „Face_It!“ die Protagonisten mit älteren Videokunst-Arbeiten, etwa Ed Emshwillers „Sunstone“, der 1979 digitale und Animationstechniken vermischte, um zu zeigen, wie sich die Ausdrucksgebärden eines Gesichts je nach Farbgebung des Hintergrunds ganz unterschiedlich deuten lassen. Tränen der Freude oder der Trauer So bleibt auch hier hinter den „maschinenlesbaren Interfaces“ vom Bahnhof Südkreuz die Frage nach den Emotionen zurück, danach, ob die Tränen solche der Trauer oder Freude sind, oder danach, welche Interpretationszusammenhänge zur Deutung dieser Aufnahmen herangezogen werden. Oder wer diese Daten überhaupt auswerten könnte, und zu welchem Zweck? Wem gehört überhaupt das zum Zahlencode gewordene Gesicht? Immerhin, so stellt Conradt am Ende süffisant fest, würde er, wenn er sich in fünf Jahren fragen würde, was er am 21. August 2018 gemacht habe, eine präzise Antwort bekommen: Er hat sich auf dem oberen S-Bahnsteig des Bahnhof Südkreuz beim Selfie-Video-Machen filmen lassen. Zuweilen recht sprunghaft führt dieser Exkurs zurück zum Urschleim der künstlerischen Hinterfragung des digitalen Zeitalters, von Emshwiller bis zum Konzeptkünstler Peter Weibel, der mit seinem „Hotel Morphila Orchester“ im Jahr 2013 in „Wir sind Daten“ das digitale Zeitalter kritisch würdigte. Eine gewisse Ratlosigkeit Nicht immer geht Conradts Konzept auf, zwischen den Protagonisten zu vermitteln und sie über ihre Kunstwerke und deren Kommentierung interdisziplinär zu vernetzen. Oft bleibt eine Ratlosigkeit zurück, die sich hinter den Gegenschnitten auf eine Protestaktion gegen den Überwachungsversuch am Bahnhof Südkreuz versteckt. Die Überlegungen, die Künstler und Kuratoren zur digitalen Gesichtserkennung anstellen, lösen das Problem des drohenden Überwachungsstaates nicht – aber sie geben zu verstehen, wo technische Systeme und Algorithmen an ihre Grenzen stoßen. Das hat neben dem allgegenwärtigen Bedrohungsszenarium auch etwas Tröstliches.
Kino-Zeit.de, Joachim Kurz FACE_It! - Das Gesicht im Zeitalter des Digitalismus ZAHLEN UND FIGUREN ALS SCHLÜSSEL ALLER KREATUREN Es ist neben unserer DNA und unseren Fingerabdrücken der unverwechselbarste Teil unserer Selbst und vor allem jener, den all die Fremden und Bekannten, die uns tagtäglich sehen, als erstes von uns wahrnehmen — unser Gesicht. Und ohne zu hinterfragen, gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass dieses Gesicht natürlich zu uns gehört. Doch gerade in Zeiten des Digitalismus, in der jedwede noch so große analoge Gewissheit in Bits und Bytes, in Nullen und Einsen und damit in Daten zerlegt werden kann, ist diese uralte Gewissheit keineswegs mehr so selbstverständlich, wie wir das bisher vielleicht glauben mögen. Ausgehend von einem Pilotprojekt zur digitalen Gesichtserkennung der Bundespolizei in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn am Berliner Bahnhof Südkreuz geht der 1941 geborene Regisseur und Videokünstler Gerd Conradt (Starbuck Holger Meins) der Frage bzw. den Fragen nach Identität im Zeitalter des Digitalen nach. Er tut dies bedächtig, mittels sorgsam ausgesuchter Interviewpartner*innen, die sich dem schwierigen und emotional aufgeladenen Thema in aller Ruhe annähern, es umkreisen, Analogien ziehen und die überwiegend beherrscht ihre Statements und Gedanken beitragen. Unter den Befragten befinden sich neben dem Künstler Julius von Bismarck und der Staatsministerin für Digitalisierung Dorothee Bär auch Peter Weibel, der Leiter des Zentrums für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe, die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel, der Coach Holger Kunzmann, die Ägyptologin Friederinke Seyfried sowie der Künstler, Aktivist und Datenschützer padeluun, der am Schluss den Film dann doch noch dazu nutzt, um einen flammenden Appell gegen die staatliche wie private Datensammelwut zu proklamieren. Gut möglich, dass er dabei vor allem auch Entwicklungen wie jene in China im Blick hat, wo die massenhafte Erhebung von Daten bereits zu einer rigorosen Überwachung der Bürger ausgebaut wurde, das euphemistisch als „Sozialkreditsystem“ betitelt wird.Und wer in diesem System schlechte Werte erzielt, wird drastisch sanktioniert. Zugegeben — bis dahin ist es in Europa noch ein weiter Weg, doch die Gesichtserkennung wäre für eine solche Entwicklung sicherlich eine Schlüsseltechnologie. Und die Erfahrung zeigt, dass, wenn eine solche Technik erst einmal vorhanden ist, sie zumeist auch eingesetzt wird. Immer wieder baut Conradt geschickt Irritationen in sein essayistisches Werk ein: So filmt er sich gleich zu Beginn des Films mittels eines Selfiesticks in einem (scheinbar nur ins Bild hineinmanipulierten) Wald und behauptet steif und fest, er befinde sich gerade auf dem genannten Bahnhof Südkreuz. Später, ebenfalls mit einem Selfiestick ausgestattet, filmt er sich und die Digitalministerin Dorothee Bär, um dann mit einem Schnitt klarzumachen, dass außerhalb des eng begrenzten Bildausschnitts ein Tonmann steht, der das Gespräch mittels einer Tonangel einfängt. Gerd Conradt erweist sich in diesem Film als jemand, der verstehen will, was gerade um ihn herum vor sich geht — und dennoch ist auch er nicht frei von einer Agenda, einem selbstgewählten Auftrag, der sich schon früh in seinem Werk andeutet — und auch hier kann man ihn bereits im Filmtitel herauslesen, wenn man ganz genau hinschaut: „Das Gesicht im Zeitalter des Digitalismus“ lautet der Untertitel von Face_It!. Statt des Prozesses der Digitalisierung steht also hier der Digitalismus im Vordergrund als eine Art Ideologie, die es zu umkreisen und zu hinterfragen gilt. Ein Unternehmen, das zwar nicht immer gelingt, das aber immerhin verschiedene Positionen zu einem gern übersehenen Komplex aufgreift und miteinander auf interdisziplinäre Weise verknüpft. Was man selbst daraus folgern mag, das bleibt schon allen selbst überlassen.