Starbuck Italienische Ausgabe Religion, Kunst, Revolution, Tod Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen. Zehn Jahre nach der Veröffentlichung von „Starbuck – Holger Meins“ in Deutschland erscheint das Buch in italienischer Sprache. Das freut mich. Worin besteht die Freude? Meine Arbeit wird anerkannt. Das Buch war in Deutschland ein Erfolg. Es wurde gut verkauft, oft besprochen und hat viele Diskussionen angeregt. Aber ist das Wort Freude hier der richtige Begriff? War Holger Meins nicht ein Terrorist? Ein Krimineller, der Banken überfallen und Bomben gelegt hat? Einer, der qualvoll in einem Hungerstreik gestorben ist – der sich geopfert hat? Der hingerichtet worden ist – wie Genossen seinen Tod bezeichnen. Jede Gesellschaft feiert ihre Helden, ihre Stars. Menschen, die Außergewöhnliches leisten – die ihr Leben einsetzen. Holger Meins war einer, der sein Leben für eine bessere Welt hingegeben hat – er glaubte an die proletarische Revolution, den Kommunismus als paradiesische Lebensform. Sein Leben ist beispielhaft für das eines „deutschen Jungen“. Mitten im 2. Weltkrieg geboren, wuchs er im geteilten Nachkriegsdeutschland auf zwischen dem Schweigen über die Taten und deren Ursachen im faschistischen Deutschland und dem „Wirtschaftswunder“, in dem die amerikanische Marktwirtschaft zum Leitbild wurde. Während zu Tausenden „Gastarbeiter“ aus Italien nach Deutschland strömten, reiste der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, zum Bocciaspielen in das Land von Sonne, Wein und Gesang. Keiner wollte mehr erinnert werden an die Achse Hitler – Mussolini. Besonders neidvoll schaute die westdeutsche Linke auf die mächtige PCI und ihre beliebten Sommerfeste. Italien das Land von „La dolce Vita“ war schon immer das Sehnsuchtsland der Deutschen. Holger Meins lernte ich 1966 kennen. Wir waren Studenten an der neuen „Deutschen Film- und Fernsehakademie“ in Westberlin. Die Macht des Kinos verband uns, fasziniert von den bewegten Bilder und deren Montage. Holger Meins, 1941 in Hamburg geboren, hatte sich während seines Kunststudiums intensiv mit dem „Bauhaus“ befasst, einer Kunstschule, deren Formensprache gesellschaftliche Unterschiede beseitigen und so zur Verständigung zwischen den Völkern beitragen wollte. Zur selben Zeit war ich von Westberlin für zwei Jahre nach Italien gezogen, begeistert vom „Manierismus“ und „Futurismus“ und besonders vom neuen italienischen Kino. Marinettis „futuristisches Manifest“ haben Holger Meins und ich heftig diskutiert: “Schönheit gibt es nur noch im Kampf“, hätte damals auch unser Leitspruch sein können. Das Filmhandwerk setzt die Fähigkeit voraus, in Bildern, Räumen und Zeitabläufen zu denken. Diese Eigenschaft, frei assoziativ mit Bildern umgehen zu können, erzeugt Weitsicht. Die Sehnsucht der Menschen nach erfüllenden Lebenszusammenhängen und anregenden Landschaften wird von Filmemachern fiktional vorgedacht, von Dokumentaristen hinterfragt. In diesem Sinn ist „Starbuck – Holger Meins“ ein Montagebuch. Du, Leserin oder Leser – kannst darin blättern, anhalten und mit dem Lesen bei jeder Geschichte beginnen. Das Buch will anregen, den eigenen Ideen radikal zu folgen. „Starbuck“ war der Deckname von Holger Meins in der RAF. Benannt nach dem Ersten Steuermann aus dem Roman „Moby Dick“ von Herman Melville. Steuermänner navigieren, halten Kurs, kennen sich mit den Naturgewalten aus. Der Name passte zu Holger Meins, so wie sein Vorname Holger, der sich aus dem Germanischen von Ger ableitet - dem Hüter und Träger des Speers, seinem Wesen entsprach. Auch mein Vorname Gerd leitet sich von der gleichen germanischen Wurzel ab. Als sich Holger Meins für die Illegalität, den Untergrund, entschieden hatte – Mitglied der RAF wurde, trennten sich unsere Wege. Obwohl auch ich mich nach einer Revolution sehnte, die die alten Verhältnisse zum Tanzen bringen würde, schloss ich für mein Handeln militärische Gewalt aus. Die Bilder von Holger Meins’ Verhaftung: der schreiende, halbnackte Mann, weltweit via Fernsehen gezeigt und sein Totenbild: der greise, ausgezehrte Mann mit langem Bart, groß in den Illustrierten präsentiert – diese Bilder von meinem Freund haben mich berührt. Auf der Beerdigung lernte ich seinen Vater kennen, der so ganz anders war, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Ein Mann, der ohne Einschränkung zu seinem Sohn hielt. Dieser Vater mit seiner Liebe und tiefen Trauer sowie ein Bild, das bei Holger Meins in der Zelle hing (das er aus den bunten Rückseiten von Bankprospekten zusammengeklebt hatte) – waren die Auslöser für meinen Entschluss, Holger Meins eine Biografie zu geben, die ihm und seinem Anliegen gerecht würde. Unüberwindbare Gräben scheinen zwischen denen zu liegen, die sich für den Guerillakampf entschieden haben, und denen, die gegen militärische Gewalt sind. - Holger Meins hatte die Brücken zu seinem früheren Leben abgebrochen – und wenn ich ihn in diesem Buch mit seinem „ganzen“ Leben, seiner bürgerlichen Herkunft, wieder in Verbindung bringe, kann das nicht in seinem Sinn sein. Oder doch? Was bedeutete ihm dieses abstrakte Bild in seiner Zelle? In seiner Form entsprach es den Bildern Piet Mondrians, des „Heiligen der Abstraktion“ und Mitbegründers des Konstruktivismus. Dieser war Vorbild für viele Bilder von Holger Meins in dessen Zeit als Kunstmaler. Holger Meins gilt auch als der Schöpfer des RAF-Signets – eine Maschinenpistole, Typ Kalaschnikow vor einem roten Stern. In seiner einfachen Form entspricht es den Konzepten der „Konstruktivisten“. Noch nicht erzählt ist Holger Meins Italien-Geschichte. Sie ist eng mit zwei Namen verbunden: Giangiacomo Feltrinelli und Renato Curcio. Im Februar 1968 ist es kalt in Berlin. Im Audimax der Technischen Universität sind alle Plätze besetzt, auch auf den Gängen drängeln sich die meist jungen Menschen. Hinter dem Podium hängt ein riesiges Plakat. Es zeigte die Fahne des Vietcong, auf der in großen Lettern steht: "Für den Sieg der vietnamesischen Revolution. Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen." Einer der Teilnehmer an diesem Vietnamkongress ist der Filmstudent Holger Meins. Er sitzt schräg vor mir – ganz vorne. Als ein eleganter Mann mit Brille und Schnauzbart an das Mikrofon tritt, wird es leise im Saal. Rudi Dutschke stellt ihn vor: „Zu uns spricht der Genosse Giangiacomo Feltrinelli.“ Der reiche Verleger aus Italien, der die ganze Welt bereist hatte, der viele Führer der revolutionären Bewegungen persönlich kannte, der bei Fidel Castro aus- und einging, der Che Guevara freikaufen wollte, der später sein Tagbuch weltweit publizierte - er spricht von der „politischen Guerilla als Gegengewalt“, der „Theorie der Brennpunkte in den Metropolen“ und ruft unter großen Beifall aus: „Am Anfang war die Tat.“ Was die Kongressteilnehmer nicht wissen, Feltrinelli hatte in seinem Reisegepäck einige Stangen Dynamit als Gastgeschenk für die Berliner Revolutionäre mitgebracht, mit diesem Sprengstoff hatte er vor, in Hamburg ein Schiff mit Kriegsmaterial für den Vietnamkrieg in die Luft zu jagen. Das brachte die Berliner Genossen in Verlegenheit. Die explosiven Argumente wurden schnell in einem leeren Kinderwagen verstaut und an einen sicheren Ort gebracht. Obwohl der Winter eiskalt war, glühte das revolutionäre Feuer in vielen Herzen junger Berliner und Berlinerinnen. Feltrinelli hatte da kräftig hineingeblasen – die Stimmung angeheizt. Eine Woche vor dem Vietnamkongress hatte am selben Ort das „Springertribunal“ stattgefunden. Der Springer Verlag besaß im Berliner Zeitungsgeschäft das Monopol. „Die USA verteidigen in Vietnam unsere Freiheit“, ließ er seine Westberliner Leser täglich wissen. Die Randalierer auf den Straßen, damit meinte er alle, die gegen diesen Krieg waren, seien Kommunisten. „Enteignet Springer“ – forderte die vereinte Linke. Unangemeldet zeigte Holger Meins auf diesem Tribunal einen Stummfilm: „Über die Herstellung eines Molotowcocktails“ – eine Gebrauchsanleitung. Als letztes Bild sahen die erstaunten Zuschauer das riesige, allen bekannte Redaktionsgebäude vom Springer Verlag an der Mauer. Noch in derselben Nacht flogen Steine in die Fenster von dreizehn Filialen des Springerkonzerns. Nicht zu Unrecht verglichen die Zeitungen am nächsten Tag die Zerstörungen mit der Reichskristallnacht am 9. November 1938, in der die Nazis die Läden jüdischer Kaufleute zerstört hatten. Der 9. November wird auch für Holger Meins zum Schicksalstag. Im Bundestag kommt es zur Anfrage: „Wer hat diesen militanten Propagandafilm finanziert?“ Holger Meins bekommt Angst und lässt das Negativ – unauffindbar - verschwinden Drei Tage vor Ostern, am 11. April 1968 – es war Frühling geworden, war Rudi Dutschke mit dem Fahrrad zur nächsten Apotheke gefahren, um für seinen erkälteten Sohn Medizin zu holen, als ein junger Mann auf ihn zutrat und fragte, ob er Rudi Dutschke sei. Als dieser die Frage bejahte, holte der bekennende Adolf-Hitler-Fan einen Revolver aus der Tasche und schoss dem beliebten Studentenführer in den Kopf. Zufällig war ich am Ort des Attentates – ich rannte zur nächsten Telefonzelle und rief Holger Meins an: „Du musst sofort mit einer Filmkamera kommen“, flüsterte ich vor Entsetzen fast sprachlos in den Hörer. „Eine Kamera brauchen wir nicht – jetzt müssen die Waffen sprechen“, antwortete er unterkühlt. Drei Tage später flogen die ersten Molotowcocktails auf Auslieferungsfahrzeuge des Springerverlages und setzten diese in Brand. Nicht Holger Meins hatte sie in der Tasche gehabt – nein, ein Polizeiagent vom Verfassungsschutz hatte sie bereitgestellt, um die revolutionären Studenten zu diskreditieren. Rudi Dutschke überlebte das Attentat. In Deutschland wollte er nicht bleiben, zu sehr fürchtete er einen neuen Anschlag – besonders auf seine Familie. Im Herbst reist der „rote Rudi“ auf Einladung Feltrinellis nach Italien. Als ich in Rom lebte, verbrachte ich viel Zeit in den Buchhandlungen von Feltrinelli. Die bunten Buchreihen, die unbekannten Autoren und die Atmosphäre in den Läden, das war neu – gelebte Popart. In der Filiale in Rom in der Nähe vom Piazza Repubblica stand eine Musikbox, die spielte die neusten Hits aus England. Dieser Feltrinelli, der in seinen bunten Buchhandlungen die Lebensgeister der italienischen Jugend weckte, arbeitete zur gleichen Zeit mit den alten und neuen italienischen Partisanen am Aufbau eines illegalen Guerillaapparates. Aufgrund meiner guten Beziehungen nach Italien wurde eine kleine Gruppe von dffb-Studenten, darunter Holger Meins mit ihren Filmen zum Festival nach Pesaro eingeladen. Damals fuhren wir mit dem Auto noch über die Passtrassen nach Italien. Als wir oben am Brenner angekommen waren und die warme Luft voller unbekannter Düfte spürten, den ersten Espresso tranken, Benzin bei Agip tankten, der Marke mit dem Wolf-Löwen, der sechs Beine hatte und Feuer spie – da fühlte ich mich zu Hause und freute mich, Holger Meins mit diesem Land bekannt zu machen, dem Land, aus dem Feltrinelli kam, dessen Rede Holger Meins so beeindruckt hatte. Holger Meins diskutierte gerne, lange, mit Geduld. Irgendwann gab es immer den Punkt, an dem er fragte: „Was tun wir jetzt? Was resultiert aus dem Gespräch?“ Im Sinne von Karl Marx wollte er die Welt nicht nur interpretieren, sondern auch verändern. Als Augenmensch schaute er Menschen und Gegenstände gründlich und genau an. Wenn ein Gerät kaputt war, betrachtete er es so lange, bis er den Fehler gefunden hatte. Später bei der RAF frisierte er Waffen und baute Bomben. In Pesaro wohnten wir als Gäste des Festivals in einem Hotel am Meer. Es war Sommer und heiß. Wenn gegen Mittag die Italiener schliefen, tummelten wir uns am leeren Strand. Abends im Kino sahen wir revolutionäre Filme aus Lateinamerika. “La hora de los hornos“ von Fernando E. Solanas und Octavio Getino hatte dort seine Premiere. Dieser Film wirkte wie eine Bombe, die Stimmung explodierte. Vor dem Kino wurde demonstriert und die Polizei marschierte auf, viele davon in Zivil. Es kam zu militanten Auseinandersetzungen, Autos brannten. Die Polizei sperrte eine Gruppe von Filmemachern im Kino ein, darunter auch Holger Meins. Sein Film „Über die Herstellung eines Molotowcocktails“ wurde mit Beifall aufgenommen. Von Pesaro fuhren wir nach Venedig, zur Kunstbiennale, wo es heftige Proteste gegen die bürgerliche Kunst gab. Wir wohnten bei dem Komponisten Luigi Nono und seiner Frau Nuria Schönberg. Als wir mit vielen Tausenden auf der Piazza San Marco demonstrierten, wurden wir von der Polizei angegriffen. Wir flüchteten durch die Gassen Venedigs. Auf der Rückreise nach Deutschland trennten sich unsere Wege. Holger Meins fuhr nach Turin – zu den streikenden Fiatarbeitern. Dort erlebte er ein ihm bis zu diesem Zeitpunkt unbekanntes Klima des politischen Aufbruchs, so wie es Feltrinelli in Berlin beschrieben hatte. Er kam in Kontakt mit Genossen von „Potere operaio“ und erspürte die Anfänge der „Roten Brigaden“.
6 Uhr früh, ein Porsche Targa 911 fährt auf den Hof eines Apartmenthauses in Frankfurt am Main. Kaum sind die drei Männer aus dem schnellen Flitzer hinter einer Garagentür verschwunden, schallt es laut über den Hof: „Hier spricht die Polizei. Sie sind umstellt. Kommen Sie einzeln heraus, es passiert Ihnen nichts. Denken Sie an Ihr Leben, Sie sind jung. Ihre Chance ist gleich Null!“ 60 schwer bewaffnete Polizisten mit Panzerfahrzeugen haben das Gelände umstellt. Die Operation „Gustav“ hat begonnen. Die steckbrieflich gesuchten Staatsfeinde Nr 1, Gründer der „Roten Armee Fraktion“, Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe, sitzen in der Falle. Als Erster tritt Holger Meins vor die Tür. Wie von der Polizei verlangt, zieht er sich aus - bis auf einen Slip, Strümpfe und Schuhe. Für Sekunden steht der große hagere Mann halbnackt mit erhobenen Händen vor der Garage, dann greifen seine Häscher zu. Die Arme weit nach hinten gedreht, hängt er mehr, als dass er geht, schleifen seine langen Beine im Sicherheitsgriff der Polizei. Die Medien sind dabei, dokumentieren sein vom Schmerz gezeichnetes Gesicht, seinen verzweifelten Schrei. Politik, Polizei und Medien jubeln: „Wir haben sie!“ - „Baader-Meinhof-Bande am Ende!“. Das Bild vom asketischen Holger Meins in der Unterhose geht als Aufmacher um die Welt – wird zu einer Ikone der Zeitgeschichte. Zweieinhalb Jahre später, im November 1974, zeigen die Medien wieder ein Bild von Holger Meins. Er ist tot. In einem weißen Totenhemd mit Manschetten auf weißen Kissen mit Rüschen liegt ein Greis mit langem Bart, tiefliegenden Augen, die Hände übereinander gelegt - zur ewigen Ruhe gebettet. Holger Meins starb am 9. November, dem deutschen Schicksalstag. Es war nasskalt, der Himmel grau, als Holger Meins in Hamburg beerdigt wurde. Tausende waren gekommen. Ein mutiger Pastor hatte durchgesetzt, dass Holger Meins - in Hamburg geboren und aufgewachsen - auch in Hamburg auf einem öffentlichen Friedhof beerdigt wurde. Denn der Springer-Konzern hetzte auch in Hamburg gegen ihn – und versuchte das zu verhindern. Nicht mal im Tod sind die hanseatischen Bürger bereit, ihren Hass verstummen zu lassen. Viele „revolutionäre Organisationen“ aus aller Welt senden Kampfesgrüße. Aus Italien schreibt Renato Curcio, Mitbegründer der „Roten Brigaden“ aus dem Gefängnis Casale Monferrato einen flammenden Brief, in dem er zur bedingungslosen Unterstützung der RAF aufruft. Er bezeichnet die RAF als „wertvollen bestandteil für die ganze linke in europa, die als „guerilla-focus“ die politische frage nach der proletarischen revolution in einer technologischen metropolgesellschaft“ stellt. Für „die kalt berechnete ermordung des genossen holger meins fordert er aufmerksamkeit“. Den Hungerstreik der RAF-Gefangenen bezeichnet er „als offensive kampftaktik, die die „militärische“ disziplin der gruppe zeigt“. Holger Meins hätte in seiner Zeit als RAF-Kämpfer Feltrinelli und auch Curcio treffen können. Am 17. Mai 1972 wird in Mailand der Polizeikommissar Luigi Calabresi erschossen. Obwohl sofort eine Großfahndung eingeleitet wird, können die Täter entkommen. Da die Attentäter, eine Frau und ein Mann, mit deutschem Akzent sprachen, wurde angenommen, es handele sich bei den Attentätern um RAF-Mitglieder – vor allem Holger Meins wurde verdächtigt. Das Attentat war perfekt geplant, so hatten die Ermittlungen ergeben. Der Deutsche sei um 9 Uhr von einer jungen Frau an den Tatort gebracht worden. Sie habe ihm den aus seiner Wohnung kommenden Calabresi gezeigt. Um 9.15 fielen die tödlichen Schüsse. Schon um 10 Uhr sei der Attentäter nach Rom abgeflogen. Die Schüsse auf Calabresi und die Verhaftung von Holger Meins hat Feltrinelli nicht mehr erlebt. Zwei Monate vorher, am 14. März, starb er bei der Explosion einiger Stangen Dynamit, vermutlich von der gleichen Qualität, wie er sie mit zum Vietnamkongress nach Berlin mitgebracht hatte. Vom „Land die Städte einkreisen“, vom „Klassenkampf zum Klassenkrieg“ hatte in den letzten Jahren sein Denken bestimmt. Als „Agent des Castrismus“, der „Spaghetti mit chilenischer Soße“ servierte, wurde er sowohl vom CIA als auch vom italienischen Geheimdienst gejagt. Es war ein „Unfall, ein Rätsel, ein Mord, ein Attentat“. – „Genosse Feltrinelli, Du wirst gerächt werden!“, rief die Linke. „Zwischen den Füßen des Strommastes mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken liegend wie am Kreuz“ schreibt der Corriere della Sera über „Osvaldo“, den die Rechte als verirrten Vertreter des „Radical chic“ verhöhnte. Calabresi musste in seiner Eigenschaft als Polizeikommissar Feltrinelli identifizieren, er erkannte ihn sofort. Papst Paul VI veranlasste Jahre später eine Seligsprechung des getöteten Polizeikommissars. Fünf Jahre nach dem Tod von Holger Meins besuche ich dessen Vater mit einer Videokamera Typ „Portapak“ in Hamburg, mit im Team ist der Filmemacher Alberto Grifi. Wir kennen uns aus meiner Zeit in Rom, als wir unsere ersten Experimentalfilme drehten. „Non Stop grammatica“ realisierte er in der Buchhandlung Feltrinelli. Für seinen Film „Anna“ erfand er den „Vidigrafen“, um Video- auf Filmmaterial zu kopieren. Als Dokumentarist ist er am Film „Parco Lambro“ über das proletarische Woodstock 1976 in Mailand beteiligt. Obwohl er kein Deutsch verstand, hat ihn Holger Meins Vater sehr beeindruckt. Die Aufnahmen mit dem Vater von Holger Meins bildeten den Grundstock für meinen Film „Starbuck – Holger Meins“, der auch in Italien gezeigt wurde und jetzt mit italienischen Untertiteln versehen neu erscheint. Um 2000 bekam die „RAF“ in Deutschland Kultstatus: Filme, Theater- und Ballettstücke, Songs, Opern - alle befassten sich mit dem Mythos vom bewaffneten Kampf der „sechs gegen sechzig Millionen“, wie der Nobelpreisträger Heinrich Böll einst das Kräfteverhältnis von RAF und Staat auf den Punkt brachte. "Red Army Fashion" und "Terrorist Chic" nannte die „Financial Times“ den neuen Trend in Germany. Militärjacke mit Patronentasche, sexy T-Shirt mit stilisierter Kalaschnikow, modischer Pullunder mit Handgranate, Sofakissen (abwaschbar) mit der Aufschrift „Terror“ – alles zu haben unter dem Label „Prada-Meinhof“. Postmodern ästhetisiert wurde Politik zum Zitat, Leidenschaft zur Coolness, Klassenkampf zum Kult – aus Kämpfern wurden Comicfiguren. Nach „9/11“ veränderten sich die Machtverhältnisse in der Welt binnen Sekunden. Durch die direkte Teilhabe der Weltgemeinschaft via Satelliten an den Terroranschlägen wurde deutlich, dass wir auf einem sehr empfindsamen Globus leben, der leicht zerstört werden kann. Als Antwort auf das Zerstörungswerk der „al-Qaida“ formierte sich der Westen zu einer Kampfgemeinschaft gegen die „Achse des Bösen“, doch die Bilder vom erfolgreichen Anschlag auf die Zentren der amerikanischen Macht sind aus dem Bewusstsein der Menschen nicht mehr zu löschen. Und so wie „Prada-Meinhof“ in den westlichen Metropolen ein „Patchwork von falschen Emotionen“ verkauft, werden die Bilder der Attentäter von „9/11“ in ihren Heimatländern zu religiösen Ikonen, die dafür sorgen, dass der Kampf zwischen den „Guten und Bösen“ endlos fortgesetzt werden wird. Mohamed Atta, der vermutete Kopf der Harakiri-Kommandos in den USA, lebte längere Zeit in Hamburg, der Geburtsstadt von Holger Meins. Bilder von „Märtyrern“ sind bekannt. Dabei handelt es sich um Menschen, die sich opfern für eine Idee. Jesus Christus am Kreuz. Wie sieht das Gegenbild zum Märtyrer aus? Ist es Mutter Maria mit dem Jesus Kind? Wie sollte die Gesellschaft aussehen, für die Holger Meins und auch Giangiacomo Feltrinelli ihr Leben gelassen haben? Ihr, die Leserinnen und Leser dieses Buches, seid aufgefordert, die Welt nach euren Vorstellungen zu gestalten. Für die Herausbringung des Buches in Italien bedanke ich mich beim Verleger Giuseppe Zambon und besonders beim Übersetzer Fabio Biasio, ohne dessen großen Einsatz das Buch nicht erscheinen würde. Gerd Conradt
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